Alte Herausforderungen in der neuen Normalität: Was wir dafür aus Corona lernen können

Autorenbeitrag von Ralf Weinen, Markt- und Sozialforscher bei der Kommunikationsagentur A&B One.

Corona setzt neue Maßstäbe für Glaubwürdigkeit und zeigt Chancen auf für die Kommunikation komplexer Transformationen – vom Klimawandel bis zur digitalen Disruption. Das zeigen Experteninterviews zur Krisenbewältigung, die wir im Mai 2020 mit Kommunikationsverantwortlichen geführt haben.

Unsere neue Normalität wird eine Zeit hoher Unsicherheit bleiben. Ob eine zweite Welle kommt, wissen wir noch nicht. Ganz sicher rücken die Themen, die uns schon vor der Pandemie beschäftigten, wieder auf die Agenda, nun unter verschärften Bedingungen: Dekarbonisierung der Industrie, disruptive Veränderungen der Arbeit, Energie- und Mobilitätswende, Populismus und Protektionismus. Das Ausbleiben einer „Abwrackprämie“ im Konjunkturpaket der Bundesregierung zeigt, dass sich dabei die Spielregeln ändern.

Trotz Lockerung gibt es wenig Grund zu Erleichterung. Wir sollten dennoch festhalten, dass (Deutschland) im Shutdown offenbar etwas gelungen ist: Eine nicht für möglich gehaltene Transformation des wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Lebens so zu gestalten, dass das Virus gebremst wurde, die zentralen Strukturen funktionsfähig blieben und die (meisten) Menschen mitgenommen wurden. Kommunikation von privaten und öffentlichen Unternehmen, von Verbänden und Institutionen hat viel dazu beigetragen.

Aktivposten in der Krise: Was hat geholfen?

Wir wollten aus diesem Ausnahmezustand lernen und haben als Kommunikationsagentur mit Kunden intensiv über ihre Krisenerfahrung gesprochen: 20 Kommunikationsverantwortliche, vorwiegend aus systemrelevanten Bereichen. Die Experteninterviews zeigen drei Faktoren, die in der kommunikativen Krisenbewältigung geholfen haben.

Erstens: Eine eingeübte Kriseninfrastruktur, soweit sie implementiert war, und obwohl sie nicht für diese Krise gemacht war. Das bestätigt eindrücklich die Arbeit der Krisenberater. Zweitens: Die offensichtliche und viel diskutierte digitale Evolution. Dieses Rad wird sich nicht mehr zurückdrehen (lassen). Mittlerweile werden allerdings auch die sozialen Defizite von Web-Meetings und Home-Office deutlich – eine Aufgabe auch für die Kommunikation.

Und drittens: Im Kern war der Shutdown eine Disruption im Sozialen. Die handelnden Kommunikatoren berichten uns von ermutigenden Erfahrungen: Improvisationskunst kompensierte den Wegfall von Strukturen. Die Arbeit gestaltete sich pragmatisch und ergebnisorientiert, mit ungeahntem Produktivitätszuwachs und gelebter Fehlerkultur. An die Stelle der üblichen Eitelkeiten trat eine neue Durchlässigkeit zwischen Silos und Hierarchien. Konstruktiv-kritisch veränderte sich oft auch das Verhältnis zu den Medien, die enorm viele Fragen, aber auch Verständnis für noch fehlende Antworten hatten. Wahrhaft disruptiv wirkt der Imagewandel der Alltagshelden, die vorher oft Prügelknaben oder Underdogs waren. Schon im Shutdown kam es also zu einer Lockerung: von Perfektionszwängen, Absicherungskulturen und Vorbehalten. Konstruktive Solidarität überbrückte die soziale Distanz.

Der Drosten-Effekt steht für eine neue Tonalität – und schafft einen neuen Kommunikationstypus

In der Krise zeigt sich, was produktiv und systemrelevant ist. Die Kommunikation kann dieses Momentum nutzen, wenn sie Mut für eine neue Offenheit hat. Die Reputation der neuen Experten (Christian Drosten ist nur einer davon) macht deutlich, dass Zeit ist für eine neue kommunikative Tonalität. Eine Tonalität, die dem Ernst der Lage gerecht wird, die hierarchieübergreifend Problemlösungen fördert und stets menschlich bleibt. Eine Kommunikation, die durch eine neue Offenheit, durch die Verbindung von Expertise und Empathie, von Dynamik und Fehlerkultur Vertrauen aufbauen und Verständnis schaffen kann.

Diese Qualitäten werden auch künftig gefragt sein bei der Kommunikation von komplexen Prozessen und schwierigen Transformationen. Durch die Inszenierung von „Purpose“ und durch eine CSR-Leistungsschauen allein wird sich der lange und risikoreiche Weg zu mehr „Sustainibility“ kaum vermitteln lassen. Vertrauen entsteht nicht durch Heilsversprechen, sondern durch einen glaubwürdigen Umgang mit widersprüchlichen Anforderungen. Kommunikation kann deutlich machen, dass man noch nicht für jedes Problem eine Lösung hat, sich aber auf den Weg macht. Konflikte dürfen nicht verschwiegen werden: z.B. zwischen Gewinn- und Gemeinwohl­orientierung, zwischen Bestandsgeschäft und Zukunftsinvestitionen. Wer offen auch mit Widersprüchen umgeht, kann nachhaltig beeindrucken. Er baut Vertrauenskapital auf, das nicht bei der ersten Attacke zusammen fällt, weil er keine unrealistischen Erwartungen geweckt hat.

Für diese Botschaften braucht es auch neue Kanäle, um die Zielgruppen direkt, echt und in Echtzeit erreichen zu können. Sie sind oft schon vorhanden, und durch Corona so richtig mit Leben gefüllt worden: Podcasts, Streaming, Apps, und natürlich auch Social Media. Sie müssen nun ausgebaut, eingeübt und weiter bespielt werden.

Möglicherweise entsteht in Folge der Corona-Erfahrungen sogar ein neuer Typus in der professionellen Kommunikation: der/die kommunikative Spezialist*in. Er oder sie tritt neben die etablierten Akteure, also Top-Führungskräfte und Sprecher*innen. Die neue Rolle kann anders eingehen auf die Risiken der VUCA-Normalität (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity). Sie gewinnt mehr Gewicht als die üblichen Expert*innen durch fachliche Autorität, Vermittlungskompetenz, Verantwortlichkeit und Nahbarkeit.

The time is now

Nach jeder Krise gibt es ein Zeitfenster, in dem Veränderung möglich wird, wenn man es nutzt. Daher gilt es, die Krisenerfahrung nun auszuwerten, festzuhalten und neue Standards zu setzen: beim Remote-Working, bei neuen digitalen Kanälen oder einer neuen Tonalität in der Kommunikation.


Über den Autor: Ralf Weinen ist Diplom Psychologe und seit 25 Jahren in der qualitativen Markt- und Sozialforschung tätig. Bei der Kommunikationsagentur A&B One leitet er den Leistungsbereich Research


Über die Expertenbefragung: Es wurden 20 qualitative Interviews mit Kommunikationsverantwortlichen geführt, vorwiegend aus systemrelevanten Bereichen (Politik und Verwaltung, Gesundheitswesen, Bildung und Soziales, Einzelhandel, Finanzen, Verkehr und Logistik). Die meist einstündigen Gespräche fanden im Mai 2020 statt, also parallel zur Lockerung des Shutdown. Der komplette Bericht ist auf Anfrage bei A&B One erhältlich.

Veröffentlicht am 11.06.2020

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